12. Mai 2024
Vortrag der Loge zur Weltkugel mit anschließender Diskussion:
Jede historische Epoche stellt an die in ihr lebende Gesellschaft ihre spezifischen Anforderungen. Wie und ob wir diesen Anforderungen gerecht werden, wird in aller Regel erst Jahrzehnte später entschieden. Unsere Enkel- und Urenkel-Generation wird an Misshelligkeiten ihrer Zeit ein Urteil über Erfolg oder Versagen früherer Generationen abgeben. Betrachten wir unsere Gegenwart, so werden Unsicherheiten, Unzufriedenheit, Ängste und Werteverlust spürbar. Was die Beurteilung der Ursachen und kausalen Zusammenhänge betrifft, so fehlt es offenbar an den Fähigkeiten und auch am Willen, diese zu erkennen und Fehlentwicklungen gegenzusteuern.
Welche Rolle kann oder sollte die Freimaurerei im Spannungsfeld gesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Ereignisse übernehmen? Nun, sicher kann es nicht unsere Aufgabe sein, die Alltagsparolen erneut aufzuarbeiten. Im Gegenteil: Anders denken als die Mehrheit, vorausdenken, welche Entscheidungen, die heute getroffen werden, sich morgen bereits als falsch erweisen könnten. Das war und ist eine freimaurerische Aufgabe.
Der Freimaurerei geht es um den Menschen und sie meint alle Menschen. Aber Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit beißen sich heute in einer globalisierten Industriegesellschaft, die ihre Maxime: Besitz, Profit, Macht verfolgt und sich global ausbreitet. Nach dieser doch sehr speziellen Moral: erwerben, besitzen, beherrschen, Gewinn machen.
Kann man Marktwirtschaft und Menschlichkeit zusammenbringen? Profit, Moral, Idealismus?
Werte, meine Brüder – Werte, das ist ein doppelbödiger, doppeldeutiger Begriff. Einerseits meinen wir damit ökonomische Werte: Börsenwerte, Anlagewerte, Vermögenswerte. Anderseits meinen wir damit ganz immaterielle, freimaurerische Begriffe: also ethische und moralische, menschliche Werte! Moralische Vorstellungen und Tugenden –sind ja nichts Anderes als gelebte Werte.
Das Tal der Tränen ist noch nicht durchschritten, 2022/23 droht ein Jahr der Rezession zu werden. Wer ein wenig älter ist, der kennt dieses Hoch und Tief, dieses Hoffen und Bangen und das Wechselspiel des Klagens. Hatte aber wirklich irgendjemand geglaubt, in jedem Jahr höhere Umsatz- und Renditezahlen erwirtschaften zu können? Bei Pandemie, Ukraine-Krieg und einer Energiekrise?
Die Gier nach immer mehr Gewinnen ist zu einer allgemeinen Erscheinung geworden. Sie ist wie ein Bazillus. So wurde aus mancher Krise auch eine moralische Krise. König Raff wurde zum Götzen erhoben. In seinem Gefolge machten sich Rücksichtslosigkeit, Egoismus und mangelnde Solidarität breit. Bis der Knall kam und die politische Lage sich verschlechterte.
Nun, da die Zeit der Wirtschaftswunder verschwunden scheint, ruft jedermann — all die, die immer „weniger Staat” gefordert haben — nach der öffentlichen, der schützenden, der bürgenden Hand.
Insofern sollte es heute auch weniger um strengere Regulierungen als um die Renaissance von Verantwortungsbewusstsein, von Moral und Tugend gehen. Es geht um das, was wir in unseren Ritualen lernen. Idealist bleiben heißt aber auch: Bescheid wissen über die Welt.
Mündig handeln. Freimaurerei ist angewandte Humanität. Wir müssen Beispiel sein und Beispiele geben.
Meine Brüder, unsere Freimaurerei blickt auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurück, auf Hunderte Jahre Wertbeständigkeit und Wertsteigerung. Wir beobachten mit Sorge, dass überall in der Welt Kulturen sterben. Darum muss jeder Einzelne von uns die Grundpostulate des Miteinanders noch stärker in den Vordergrund seines Handels rücken. Ethik und Moral müssen eingefordert werden.
Nur, wenn wir dies beachten und beherzigen, wird es uns gelingen, eine gute Zukunft im 21. Jahrhundert zu sichern. Es gilt dabei vor allem, die Frage nach der geistigen Orientierung immer wieder neu zu stellen, damit im eingetretenen gesellschaftlichen Wertewandel ein solides Fundament
aufrechterhalten bleibt. Wir wollen auch das, was sich bewährt hat, im besten freimaurerischen Sinne bewahren und festigen.
Es vergeht auch heute kein Tag, wo wir nicht über Krieg, Staats- und Wirtschaftskrisen lesen. Staatliche Rettungsschirme haben Hochkonjunktur. Wir haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Und wir sollten uns nichts vormachen: Die schlimmen Entartungen sind nicht auf den internationalen Markt beschränkt geblieben. Es gibt sie hierzulande ebenfalls. Auch in Deutschland sind viele in Versuchung geraten, gegen das ethische Minimum zu verstoßen, oder haben dieser Versuchung nachgegeben.
Dazu gehören große Unternehmen, die jahrelang nicht einen Cent Steuern zahlten, und Großbanken, bei denen gegen den halben Vorstand wegen persönlicher Steuerhinterziehung oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung ermittelt wurde.
Eine raffgierige Geschäftsaristokratie schafft auch politische Probleme, einfach, weil sie die öffentliche Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft untergräbt. „Unternehmertätigkeit kann keine seelenlose Veranstaltung sein, sondern bedarf der ethischen Verankerung“. Auch im Wirtschaftsleben braucht es Werte und Tugenden: Vertragstreue, Anstand und Verlässlichkeit zum Beispiel. Die hanseatischen Tugenden also.
„Erlaubt ist, was gefällt“ – diese Maxime hat sich bereits überlebt. Wir werden alle wieder auf den Grundsatz stoßen, den unser Bruder Goethe in seinem Tasso formuliert hat: „Erlaubt ist, was sich ziemt“.
Meine Brüder, Wertewandel hat es schon immer gegeben – und er wurde auch schon immer als Verfall der Moral beklagt oder aber als Befreiung von drückender Heuchelei empfunden.
Die moralische Tradition blieb im Großen und Ganzen intakt. Erst mit dem Wandel der Gesellschaft begannen sich auch die althergebrachten Wertvorstellungen zu ändern. Ein Wunder ist dies nicht. Wenn die Weltordnung wankt, gerät auch die Werteordnung ins Wackeln.
Geschichte war bisher gemeinhin Übergang – allmähliche, gleitende, fast unmerkliche Veränderung. Unsere Epoche jedoch ist gekennzeichnet von galoppierendem Wandel. Auto, Flugzeug und Computer haben unser Leben stärker verändert als alle Erfindungen und Entdeckungen seit der Indienstnahme des Feuers durch den Menschen. Fernsehen, Handy, und Mikrochip, Atomtechnik und Gentechnologie hatten die gleiche Wirkung. Die Politik ist von der Technik überrannt worden. Im Zeichen der wirtschaftlichen Globalisierung verliert sie nun ein weiteres Stück Gestaltungsmacht. Zugleich büßen altvertraute, Sicherheit gewährende Lebensgemeinschaften wie Nation und Familie an Zusammenhalt und Bindewirkung ein.
Die Frage, was richtig gelebtes Leben heißt, wird heute anders beantwortet als noch vor hundert Jahren, der Lebenssinn anders interpretiert. Wohl gilt die Definition des Aristoteles fort, der oberste Wert sei das Glück. Doch gehen die Meinungen darüber, was Glück ist, weit auseinander. Wenn Selbstverwirklichung der Weg zum Glück sein soll – was bedeutet Selbstverwirklichung? Steckt dahinter nur ein extremer Subjektivismus, der es erlaubt, das zu tun, was einem gerade gefällt? Oder geht es, wie in der klassischen und christlichen Ethik, um die Entfaltung dessen, was der Mensch als Gemeinschaftswesen sein soll?
Wie viele andere westliche Länder haben wir, bei uns in den sechziger und den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, eine – um mit Nietzsche zu sprechen – „Umwertung aller Werte“ erlebt. In der Achtundsechziger-Bewegung brach sich das neue Zeitgefühl machtvoll Bahn.
Die im Wohlstand aufgewachsene Jugend stufte die Pflicht- und Akzeptanzwerte herunter, Gehorsam also und Leistung. An deren Stelle rückte sie Selbstentfaltungswerte wie Individualismus und Autonomie des Einzelnen.
Während sich auf diese Weise die Grundeinstellungen zum Leben, die Auffassungen über Sinn und Zweck des menschlichen Daseins veränderten, trat auch ein Wandel der Alltagsmoral ein. Bisher fest gefügte Normen, Gepflogenheiten, Konventionen – die Mores also, wie die Römer sagten, verfielen der Aufweichung.
Jetzt ändert sich diese Einstellung. Zyniker mögen sagen: „In brenzligen Zeiten boomt die Moral“ Früher hieß es: „Not lehrt beten“. Doch verbirgt sich hinter der Wiederbelebung des alten Tugendkatalogs nicht nur neue Lebensangst. Es stecken dahinter mehrere unabweisbare Einsichten:
Zum Ersten die Einsicht, dass eine Gesellschaft, in der es keine gemeinsamen Werte, keine gemeinsame Wirklichkeitsdeutung gibt, nicht überlebensfähig ist.
Zweitens die Einsicht, dass Lebenssinn, wenn er in der beruflichen Arbeit und in selbstverständlichen Gewissheiten nicht mehr zu finden ist, in der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens gesucht werden muss.
Drittens die Einsicht, dass der Einzelne sich nur in gesellschaftlichen Bezügen entfalten und verwirklichen kann, die über ihn hinausgreifen. Er ist auf Solidarität angewiesen und muss daher selber Solidarität üben. Solidarität, das Füreinander eintreten ist das Kennwort des zweiten großen Wertewandels, den unsere Gesellschaft binnen der letzten Jahrzehnte erlebt hat.
Das Pendel schwingt also zurück. Nicht, dass die dumpfe alte Werteordnung wiederherzustellen wäre. Aber es bildet sich doch aufs Neue ein Minimum an Gemeinsamkeiten heraus, das den Kitt der Gesellschaft liefert. Die Zeitgenossen werden nicht mit einem Male dem Lebensgenuss, der Raffgier abschwören, doch sie erkennen, dass sich ihr Dasein nicht nur im Genießen oder Ausbeuten Anderer erschöpfen kann. Die Weltgemeinschaft braucht Werte, eine Moral, die alle verbindet. Wir müssen lernen, mit anderen nur so umzugehen, wie wir selbst behandelt werden wollen. Egoismus im 21. Jahrhundert heißt, sich auch um die Anderen zu kümmern.
Insgesamt geht es um einen ethischen Konsens in unserer Gesellschaft.
Was trägt die Freimaurerei dazu bei?
Mit unseren Symbolen, Ritualen, unserer Arbeit am rauen Stein, mit dem Ziel des vollkommenen Menschen, stehen wir für Persönlichkeitsentwicklung und Werteerziehung auf hohem Niveau.
Also die Aufgabe ist klar, liebe Brüder: Wir müssen den Zeitgeist auf die Höhe der Zeit bringen. Dabei sind wir alle gefordert. Was letztlich nottut, um einen neuen Konsens bürgerlicher Ethik zu etablieren, muss im Wege des öffentlichen Räsonierens aus der Tiefe und Breite der Gesellschaft kommen. Vielleicht hilft die derzeitige Krise sogar, uns auf unsere Werte zurückzubesinnen.
Denn Freimaurer stehen für eine Gesellschaft der Werte, für eine verbindliche Moral, eine Ethik des Denkens und Handelns. Nach dem, was wir als Brüder feierlich gelobten, tragen wir eine besondere Verantwortung für das Ganze. Dieser Verantwortung, im Geiste unserer Altvorderen, an die Mitwelt zu vermitteln, ist eine bleibende Verpflichtung. Vielleicht denken wir alle einmal wieder etwas bescheidener und gehen als Freimaurer mit gutem Beispiel voran. Der Konsumrausch ist nicht alles. Vielleicht ist eine Rückbesinnung auf die guten, alten Tugenden angebracht, sich wieder im Familien- und Freundeskreis zu treffen, miteinander zu sprechen und zuzuhören. Was die Ellenbo- gengesellschaft an Gleichgültigkeit produziert, versuchen wir Freimaurer durch Brüderlichkeit, durch Nächstenliebe auszugleichen.
Ihr fragt, wer Gewinner wird?
Sicher nicht die rücksichtslosen Weggucker, die raffgierigen Ignoranten. Es siegt stets das Gute über das Böse.
Die derzeitige Krise bietet die Chance, sich diesen Gedanken zu nähern und mitzuhelfen, die oft doch in unseren Städten vorherrschende soziale Kälte ein wenig zu erwärmen.
Bereits im ersten Jahrhundert ihres Bestehens hat die deutsche Freimaurerei entscheidende gesellschaftspolitische Akzente gesetzt. Das war die Zeit der starken, der lebendigen Freimaurerei. Es waren die Freimaurer, die in der Gesellschaft, die als schmerzlich empfundene Defizite diskutierten und im Bruderkreis auf Abhilfe sannen.
An diese lebendige und großartige deutsche Freimaurerei gilt es anzuknüpfen. Sich dem Zeitgeist entgegenzustellen und sich auf die Präambel unser alten Pflichten zu besinnen, wird wieder eine der wichtigsten Aufgaben der Freimaurerei in den nächsten Jahren sein.
Freimaurerei kann nicht die Welt verändern, aber hier und da kann sie aus guten Menschen bessere machen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen Kraft für die Lösung der uns gestellten Aufgaben und Erfolg bei all unserem Tun.